Während es draußen allmählich immer kälter, grauer und nasser wird, bedeutet der Herbst die heiße Phase für Gastronomie und Produzenten. Die großen Guides vergeben ihre Hauben, Sterne und Gabeln, es regnet Gold, Silber, Bronze für Winzer und Destillateure.
Abgesehen vom enormen wirtschaftlichen Faktor, den ein Pünktchen mehr oder weniger auf der hochheiligen Skala der Künste bedeuten möge, sind oft persönliche Schicksale eng verknüpft mit den Resultaten. Wie ein Damoklesschwert baumelt die scharfzüngige Klinge der Gault Millau, Michelin oder Bertelsmann Richter über Restaurants landauf, landab. Nicht wenige Protagonisten hat eine unbefriedigende Bewertung den Kopf gekostet.
Auch in der Welt der Weine und Spirituosen spielen Punkte, Ratings und Reviews eine tragende, bisweilen tragische Rolle. In den letzten Jahren jedoch wirkt die Last noch etwas drückender, mehr und mehr salbungsvolle, selbsternannte Experten werfen ihr Halbwissen in den bunten Reigen und inszenieren sich selbst, als seien sie von höheren Gnaden eingesetzt.
Ein gewisser Herr Parker hat über viele Jahre die Weinbranche wie eine Kuhherde vor sich hergetrieben und mit seinen 100 Punkten ein solches Machtwerk aufgebaut, das wie Suchtgift, Aufputsch- oder Druckmittel unmittelbar auf die Branche gewirkt hat (und nach wie vor tut). Manch einer meint, die persönlichen Präferenzen und Stilistiken des in Maryland geborenen Juristen hätten einen solchen Einfluss, dass sich die Weincharakteristiken ganzer Gebiete verändert hätten. Kritische Zungen sprechen von der „Parkerization“ und apropos Zunge: Nase und Gaumen des Amerikaners sind auf einen Millionenbetrag versichert…
Nun freilich, dass zusehends fett üppige Bordeaux Weine mit viel Extrakt bei En Primeur Verkostungen auftauchen, mag mit einer Vielzahl an Faktoren, beispielsweise klimatischen Veränderungen und ähnlichem zu tun haben, aber der Impact, den 100 Punkte für ein Chateau bedeuten können, ist enorm. Und was dem Herrn in etwa schmeckt, hat sich schnell herumgesprochen. „Niemand verkauft Wein wie Robert Parker“, wusste man bei Berry Bros & Rudd zu konstatieren, immerhin eines der renommiertesten und ältesten Wein und Spirituosenhandelshäuser.
Im Gegenzug werden natürlich auch kritische Stimmen gegen die Kritiker selbst laut, wer sich abheben will formuliert sein eigenes Punktesystem, 20er Skalen, 5 Sterne, 10 Punkte, 3 Kreuzchen. Eine so gravierende Prägung auf eine gesamte Branche wird zweifelsohne nicht von allen goutiert.
Als sich Herr Parker im Jahre 2013 bemüßigt fühlte seine Kompetenzen auszuweiten und einmal am Whiskyglas zu nippen begann, hagelte es fast schon mitleidiges Murren seitens der Experten rund um Single Malt, Bourbon, Rye und Blend. Die Beschreibungen aufgesetzt, die Punkte aufgelegt, das Industriesponsoring quoll aus jeder Silbe. Man muss konstatieren, dass dieser Versuch ganz objektiv betrachtet schwerst in die Hose gegangen war.
Neben der gängigen Weisheit des Schusters, der bei seinen Leisten bleiben möge, wurde durch diese „Chuzpe“ auch das dünne Eis offensichtlich, auf dem sich die Rezensenten selbst bewegen. Ein paar falsche Worte, ein falscher Kommentar und der Richter wird zum Gerichteten.
Das Gebiet der feinen Destillate haben indes andere weit plausibler und erfolgreicher bearbeitet. Der bedauerlicherweise bereits verstorbene Michael Jackson war eine Institution, wenn es um Whisky und Whiskey ging. Ralfy Mitchell begeistert mit seinen Youtube Reviews die Online Community und bietet einen informell, entspannten Mix aus Unterhaltung und Bildung.
Und für Getränke ist die eingangs beschriebene Herbstzeit ebenfalls geprägt von Award Zeremonien, Auszeichnungen, Rankings und Neuauflagen diverser Führer.
Jim Murray stellt mit seiner Whisky Bible seit Jahren schon im Titel einen recht hohen (im wahrsten Sinne des Wortes) Anspruch. Jährlich verkostet der britische Journalist mit seinem Team Proben aus aller Welt. Über tausend neue Einträge sind es alleine für die Auflage 2015, gemeinsam mit Notizen der Vorjahre umfasst das Werk rund 4.500 Produkte.
In den frühen 90er Jahren tat Murray den Schritt in die Ungewissheit und widmete sich als erster hauptberuflicher Whiskyautor ganz seiner Leidenschaft. Dass diese zuweilen auch Leiden schafft, beschreibt er im Vorwort der aktuellen Edition. Vermutlich hat niemand sonst so viele Destillerien im Laufe eines Lebens besucht, wie Murray. In Kombination mit seinen Wohnsitzen in Großbritannien und den Vereinigten Staaten heißt dies in erster Linie einen unglaublichen Reiseaufwand. Dass der heuer entdeckte Knoten im Bein und eine ausgewachsene Thrombose bisher ohne lebensbedrohliche Konsequenzen blieben, grenzt an ein … „biblisches“ Wunder.
Die Selbstinszenierung zum Messias der destillierten Gerstensäfte interpretiert der ein oder anderen Genießer jedoch ambivalent. Die Art der Verkostung wird im Buch als „Murray Methode“ beschrieben, der Kampf gegen Schwefel verseuchte Fässer zur Whiskylagerung nimmt Kreuzzug artige Dimensionen an. Außer Frage steht aber das Gewicht und der Stellenwert, der der Whisky Bible einzuräumen ist. Die Kür zum Besten Whisky des Jahres wird von der Branche erwartet, wie im Kodak Theatre die Überreichung der 3,8kg schweren, goldenen Academy Award Statuen.
Unterm Strich bleibt besonders auch ein wirtschaftlicher Faktor rund um Punkte und Preise. Für Köche, Restaurantbetreiber und Produzenten ist es natürlich Balsam auf die Seele, wenn positives Feedback eintrudelt. Kommt dies aber von kritischen Zungen, deren Wort über derlei Publikationen weite Kreise zieht, so heißt das am Ende des Tages schlichtweg mehr Cash.
In einer reizüberfluteten Welt und einem permanenten Überangebot, verlassen sich viele Menschen mit ihren Entscheidungen auf Auszeichnungen, auch wenn deren Hintergrund nicht immer hinterfragt wird. Weiß ein Tourist in einer neuen Stadt nicht recht, welche Lokalität den Abend abrunden soll, wird Trip Advisor konsultiert, vor einem sich biegenden Weinregal sucht man nach dem höchst be-parker-punkteten Gewächs, Murray’s Whisky of the Year wandert plötzlich doppelt so schnell und doppelt so teuer über die Ladentheke. Der Mensch ist in vielerlei Hinsicht entmündigt, verlässt sich nicht mehr auf sein eigenes Urteil oder kann und will schlichtweg nicht den Überblick behalten und jede Produktkategorie eingehender studieren.
Genau diesen Umstand bedienen Kritiker, Autoren und Reviewer. Seit es von Menschenhand geschaffene Produkte gibt, finden sich auch jene zusammen, die wachsamen Auges die Resultate unter die Lupe nehmen. Auch sie sind am Ende des Tages Unternehmer und suchen durch die Arbeit in ihrer eigenen Sparte und Nische das Auslangen zu finden. Und dass damit immer auch Sentimentalitäten und Animositäten verknüpft sein werden, ist wohl offensichtlich. Denn ein solcher medialer Beitrag ist zu einem gewissen Grade unumgänglich subjektiv. Genauso wenig wie ein Destillateur von sich behaupten möge „den besten Brand der Welt“ fabriziert zu haben, soll nicht ein Experte letztinstanzlich über Gedeih und Verderb ganzer Produktkategorien und ihrer Protagonisten richten.
Wenn beide Seiten sich dieses Umstandes bewusst sind, mit offenen Karten spielen und konstruktiv zu einem großen Gemeinsamen beizutragen versuchen, haben alle etwas davon, es dient der Branche.
Niemand zwingt einen, ein bestimmtes Produkt zu kaufen, genauso wie niemand genötigt wird, sich die ausschweifenden Erläuterungen über ebendieses in Buchform zu Gemüte zu führen.
Schaffen Sie sich einen Überblick, bilden Sie ihre eigene Meinung und genießen Sie die feinen Dinge des Lebens. Dazu gehört ein gediegenes Essen, genauso wie ein Glas Wein oder Whisky und ein gutes Buch.
Mit den besten Spirits,
Reinhard Pohorec