Wir freuen uns, Ihnen jeden Sonntag ein Stück einer wunderbaren Geschichte über Schottland, Whisky und das Reisen vorstellen zu dürfen: Exklusiv auf Whiskyexerts präsentieren wir Ihnen Whisky Cycle, das neueste Buch von Uli Franz, als Fortsetzungsgeschichte.
Uli Franz lebt als Schriftsteller im Chiemgau und auf der dalmatinischen Insel Brac’. Von 1977-80 arbeitete er als Zeitungskorrespondent in Peking. Über China und Tibet veröffentlichte er zahlreiche Bücher. Zuletzt erschienen Radgeschichten und „Die Asche meines Vaters“ (Rowohlt Verlag).
Das Buch Whisky Cycle – Eine Radreise durch Schottland (ca. 320 Seiten) ist momentan in der ersten Auflage vergriffen – über Neuigkeiten zu Bestellmöglichkeiten werden wir Sie natürlich rechtzeitig informieren.
Whisky Cycle – Eine Radreise durch Schottland von Uli Franz (Folge 21)
Bei der Herfahrt hatte ich am Dorfrand ein Gasthaus registriert, dorthin lief ich nun zu Fuß, den knurrenden Magen und die verhärtete Muskulatur als leidige Begleiter im Gefolge. Das Restaurant Little Fox hinter gehäkelten Gardinen musste einst das Wohnzimmer des Fischerhäuschens gewesen sein, so gedrängt lag seine Räumlichkeit hinter der Haustüre, links neben der halsbrecherisch steilen Treppe ins Oberstübchen. Als ich die Klinke bediente, klingelte über dem Türstock ein Glöcklein. Geräuschlos betrat ich den Teppichboden des holzgetäfelten Raums und da ich als erster Gast gekommen war, konnte ich mir einen der eingedeckten Tische aussuchen. Ich entschied mich für einen Ecktisch und nahm unaufgefordert Platz, weil auf mein Läuten niemand reagiert hatte. Mit dem Anstand des Fremden wartete ich bescheiden auf die Bedienung. Nach zehn Minuten wartete ich immer noch, während durch die Schwingtür neben der Theke Stimmen und Töpfeklappern an mein Ohr drangen.
Seit ich das Zimmerrestaurant betreten hatte, knurrte mein Magen wie ein eingesperrtes Tier, und als die Darmgeräusche immer lauter wurden, redete ich mir ein, dass Schotten eben Gemütsmenschen sind und schottische Wirte ihre Gäste auch mal in Ruhe ankommen lassen können. Was ich bis dahin noch nicht wusste, dass Schotten sehr strukturierte und überaus korrekte Leute sind. Nach einer gefühlten halben Stunde trat der Wirt mit einer umgebundenen Schürze an meinen Tisch und wollte als erstes wissen, ob ich reserviert hätte?
„Nein, sorry, tut mir leid!“
„Oh, nicht reserviert! Das kann aber schwierig werden!“
Um es gleich vorweg zu nehmen: das Zimmerrestaurant, das nach dem Vorbild von Rynair-Economy bestuhlt war, blieb den ganzen Abend bis auf drei Gäste leer. Der Wirt, der wohl als Solist fungierte, kam später in seiner fleckigen Schürze vor dem Bauch zu jedem Gast an den Tisch und wollte von jedem einzelnen den Namen und die Herkunft wissen. Kaum vernommen, rief er überlaut den Namen des Gastes und seine Nationalität in die Runde, um uns untereinander bekannt zu machen. Dank dieser Conférencier-Einlage erfuhr ich, dass die hübsche Blondine am Katzentisch, die ihren Lockenkopf andauernd in eine Landkarte versenkte, aus dem Schweizerischen Winterthur kam. Beim zweiten Bier lud ich sie an meinen Ecktisch ein und wir kamen ins Gespräch. Sie war seit zwei Tagen als Backpackerin von Tarbert auf dem Kintyre-Walk nach Süden unterwegs.
Nachdem ich bereits vom ersten Blond einen in der Krone hatte, kamen mit Verspätung doch noch die Suppe und die Fischpastete mit Salat. Endlich war der Magen ruhiggestellt. So zückte ich nach zwei Stunden die Geldbörse, um die kleinste Rechnung meines Lebens, die auf einem Porzellan Untersetzer serviert wurde, zu begleichen. Auf einem 2 x 3 cm großen, wie hingehaucht bedruckten Zettel waren zwei kleine Bier, eine Blumenkohlsuppe und eine Fischpastete für 20 Pfund aufgelistet. Nein, ich verlangte keine Leselupe vom Wirt, aber ungläubig zückte ich doch meine Lesebrille und studierte die vernebelt ausgedruckte Addition, auch drehte und wendete ich den niedlichen Papierstreifen, ob er gewiss auch kein Scherzartikel sei. Völlig wertfrei fragte ich mich beim Verlassen des Little Fox: war das nun ein Exempel der legendären schottischen Sparsamkeit, die böse Zungen Geiz nennen?
Nach einem verdauungsfördernden Spaziergang durch die sternklare Nacht ins Dorf hinein, schloss ich die schwere Haustür und hinter dem roten Läufer das Schnappschloss meiner Zimmertür auf und schleppte mich todmüde in mein Plüschquartier. Achtlos warf ich die zehn Knuddel- und Kuschelkissen vom Bett und schlüpfte leicht angeekelt in Kleidern unter die nachtblaue Brokatdecke, deren Gewicht mich alsbald in den Schlaf drückte.
Das Frühstück am nächsten Morgen hob meine Stimmung im Nu: auf der weißen, gehäkelten Tischdecke war goldgerändertes Porzellan opulent arrangiert und als gelber Farbtupfer stand mitten im edlen Ensemble ein Glas Orangensaft. Ich griff zur Silbergabel und naschte vom goldgelben Rührei und anschließend schmierte ich mir salzige Butter auf den noch warmen Dreieckstoast, den ich anschließend mit der mittlerweile vertrauten pappsüßen Orangenmarmelade bestrich. Die Wirtin, wieder in ein aufreizend enges, fliederfarbenes Top gezwängt, bediente mich lächelnd und plauderte und plapperte über ihre Blumen und den Sonnenschein. Anstandslos schenkte sie mir Kaffee nach und fragte immerfort nach meinen Wünschen. Ich dankte ihr und schnabulierte noch eine ganze Weile von den üppig aufgetragenen Speisen. Bumssatt wechselte ich aus dem Frühstücksraum mit dem großen Erkerfenster in mein Romantikzimmer und packte meine sieben Sachen.
An jenem Morgen brauchten der Regenanorak und die kurze Regenüberhose nicht obenauf zu liegen, denn bereits um 8 Uhr grüsste die Sonne von einem blank gewischten Himmel. Nach Bezahlen von 50 Pfund holte ich mein Steppenwolf aus der Garage, schnallte die beiden Taschen am Gepäckträger fest und schob das Rad tief einatmend durch das duftende Paradies der Tulpen, Rosen und Päonien auf die Dorfstraße.
Am Straßenrand in Richtung Hafen leuchtete in der Morgensonne ein roter Briefkasten der Royal Mail als stünde er in Flammen. In seiner runden Gusseisenform sah der Kasten aus wie ein niedriger Sockelturm, der gewiss schon 100 Jahre auf dem Buckel hatte. Neugierig trat ich an das antike Schätzchen heran und entdeckte ein kleines Hinweisschild: tägliche Leerung 2.00 p.m. Immerhin – einmal täglich war Carradale auf postalischem Wege mit der Außenwelt verbunden. Für Exoten, die noch Briefe schrieben, reichte die tägliche Leerung ohne Frage aus, zumal das Internet an diesem gottverlassenen Örtchen einwandfrei funktionierte.
Wenige Meter hinter dem royalen Briefkasten, aber viel tiefergelegen, erstreckte sich eine sichelförmige Hafenbucht, in der fünf Fischkutter ankerten. Die Reling dieser traurigen Kähne war bestückt mit roten Fendern, die Sonne, Wind und Wetter über die Jahre ausgebleicht hatten. Auf dem Kai türmten sich graugrüne Fangnetze und Fischsteigen aus tannengrünem Plastik. Die alten Kutter vor Anker verhießen nichts Gutes, vielmehr bezeugten sie den traurigen Zustand der Irischen See. Diese war laut maritimer Bestandsaufnahme leergefischt. Auch wenn in allen Supermärkten Fischwaren, tiefgefroren oder geräuchert, auch manchmal frisch, angeboten wurden, verriet das Kleingedruckte auf der Packung, dass dieser Fisch aus einer Aquazucht stammte. Solch eine Zucht lag in einiger Entfernung vom Hafen im Sund. Als ich die Zucht in der Ferne betrachtete, erinnerten mich die rechteckigen und runden Gestelle von Netzen und Unterwasserbecken an eine Christo-Installation namens Floating Fence. Doch diese Sicht war eine idealisierte Sicht auf die Unterwassereinrichtung. Nüchtern betrachtet, handelte es sich um die metallischen Zeugen einer traurigen Entwicklung.
Freilebender Wildfisch wird immer rarer und teurer, während künstlich gezüchtete Fischschwärme in gigantischen Käfigen oder in am Grund verankerten Mega-Netzen gezüchtet und mit Soja turbomässig gemästet werden. Damit sich der ganze dreckige Aufwand auch lohnt, wird der Fischbesatz derart dicht gehalten, dass die gestresst heranwachsenden Tiere mit Antibiotika stabilisiert werden müssen. Beim Anblick der Fischfarm im Kilbrannan Sund nahm ich mir vor, weniger Fisch zu essen, zumal mir auf meiner weiteren Reise in Loch Linnhe und Loch Eil weitere industrielle Fisch- und Hummerzuchten begegnen sollten.
Inzwischen hatte ich genug gesehen, nun wendete ich das Fahrrad auf der stillen Dorfstraße und stemmte mich gegen den Lenker, denn von meinem Standpunkt aus kletterte die Straße einige hundert Meter an meinem Guesthouse vorbei den Dorfhügel hinauf. Erst kurz vor dem Ortsschild stieg ich in den Sattel und pedalierte am Golf Course von Carradale vorbei. Keinen Kilometer später bog ich wieder auf die B 842 ein und setzte meine Fahrt am schwarzweißen Straßenschild Brackley vorbei fort. Noch trat ich achtsam in die Pedale, ich tat dies mit Bedacht, denn es galt erst einmal die Waden aufzuwärmen.
Schon bald erwies sich die Straße nach Claonaig, wo eine Fähre zur Insel Arran verkehrte, als einziges Desaster: der schwarze Asphalt war streckenweise regelrecht aufgewühlt und bröselig wie ein Streuselkuchen. Bergab war äusserte Vorsicht geboten und bergauf hieß es, in Schlangenlinie um Schlaglöcher und wulstige Teerpolster herumzufahren. Dieser Kurvenwalzer ging nur deshalb auf der gesamten Straßenbreite gut, weil auch auf dieser Strecke gen Norden herzlich wenig Verkehr unterwegs war. Bewusst hatte ich diese Arteriole an der Ostküste gewählt, da sich der Hauptverkehr von und nach Campbeltown entlang der Westküste abspielte.
Dottergelb blühende Ginsterbüsche säumten wieder die Böschung und wetteiferten mit dem Violett von blühendem Heidekraut, das sich in Matten die Hänge hinaufzog. Alle paar Kilometer fuhr ich unter den Kronen von Eichen, Eiben, Eschen und unter schwarzgrünen Nadeldächern von Douglasien hindurch. Dann wieder durch Bracken und Felder von Farnen, deren Blattzungen frech an den Rändern des Straßenbelags leckten. Anfang Mai drängte die Natur aus ihrem Winterquartier ans warme Licht. Überall sprossen lindgrüne Knospen und an Büschen und Bäumen entrollten sich Blätter in neugeborener Zartheit. Auf dem Rad umwogte mich das Elixier des neuen Lebens und mich vitalisierte der Überschwang einer erwachenden Flora, die mich und die Luft und die vielen Weidetiere auf geheimnisvolle Weise nährte. Plötzlich hoppelte in Sichtweite ein Feldhase von rechts nach links und wenig später ein Kollege von links nach rechts. Auch ein Igel hatte alle Zeit der Welt, den schwarzgrauen Belag unter seine kurzen Füßchen zu bekommen. Ja, manchmal ging es auf der Teerpiste so tierlieb zu, dass ich mir schon wie ein Störenfried vorkam.
Die meiste Zeit war ich mit mir selbst beschäftigt: ich hing meinen Gedanken nach, auch bildete ich mir ein, dass die salzige Luft, die dem nahen Meer entstieg, meinen Muskeln zusätzliche Kraft verlieh und mein Atmen vertiefte. Alles Einbildung? Natürlich kommt jeder, der stundenlang in Stille durch die Natur streift, ins Träumen. Vor allem dann, wenn er sich bedächtig und horchend und aus nächster Nähe auf sie einlässt.
Das Eiszeitland von Kintyre war ein einziges Postkartengedicht: rechter Hand das stahlblaue Meer, das die Enge vor der Insel Arran spiegelglatt überspannte, linker Hand eine Abfolge gewellter, dunstverhangener Hügel, die vor Jahrmillionen von Vulkanen und später von Gletschern modelliert worden waren. Die steinernen Zeugnisse prähistorischer Epochen stemmten sich mittlerweile als rote Sandsteinklippen in einen Himmel, dessen flüchtige Wölkchen sich in den vielen Bächen und Rinnsalen als Inseln und Inselchen spiegelten. Mal fuhr ich erhöht mit Panoramablick auf die Küste, deren Sandbuchten den Meersaum schmückten, mal fuhr ich zu den weißen Buchten hinab, wo es nach Tang und Algen roch und sich mir ein Hauch von Salz auf die Zunge legte. Ja, auf dem Rad saß ich wie in einer Loge – vor meinem Vorderrad inszenierte die Natur ganz großes Theater. Unendlich verführerisch mutete der Logenplatz in der ersten Reihe an, denn er schürte die Vorstellung, ein Luxusreisender zu sein.
Tatsächlich aber war es anstrengend, denn die flachen Stücke waren dünn gesät, meistens zwang mich die wellige Landschaft, ihrem Diktat des Auf und Ab zu folgen. Gut, auf dieser Etappe kam es zu keinem Marathon von Wadenkampf, aber immerhin zu vielen kleinen Wadenkämpfchen. Über die Stunden machte ich dann doch Strecke – zwar langsam aber stetig. Ich kam voran, weil ich beharrlich mein Ziel verfolgte, das Claonaig hieß. Dort wollte ich am Kai entscheiden, ob ich noch einen Abstecher zur Insel Arran hinbekäme.
(zur nächsten Folge)