Wir freuen uns, Ihnen jeden Sonntag ein Stück einer wunderbaren Geschichte über Schottland, Whisky und das Reisen vorstellen zu dürfen: Exklusiv im Vorabdruck präsentieren wir Ihnen Whisky Cycle, das neueste Buch von Uli Franz.
Uli Franz lebt als Schriftsteller im Chiemgau und auf der dalmatinischen Insel Brac’. Von 1977-80 arbeitete er als Zeitungskorrespondent in Peking. Über China und Tibet veröffentlichte er zahlreiche Bücher. Zuletzt erschienen Radgeschichten und „Die Asche meines Vaters“ (Rowohlt Verlag).
Das Buch Whisky Cycle – Eine Radreise durch Schottland (ca. 320 Seiten) erscheint am 01.02.2021 im Alba Collection Verlag GbR. Es kann zum Preis von 19,- Euro hier vorbestellt werden.
Whisky Cycle – Eine Radreise durch Schottland von Uli Franz (Folge 9)
Punkt 8.30 Uhr, keine Minute früher, schloss meine Wirtin die Verbindungstür zum Speisezimmer auf und wies mir einen eingedeckten Platz neben dem Buffet zu. Alles war für den Gast von Room No. 1 bestens organisiert, das Timing, das Arrangement auf der weißen Tischdecke und auch die Speisenfolge, die ich bereits am Vorabend auf einem Zettel angekreuzt hatte. Der Wunschzettel vom Vorabend war so etwas wie eine Multiple-Choise-Liste. Zwischen Porridge, Pfannkuchen, Schinken mit Eier, Rührei mit Lachs und poschierten Eiern mit vegetarischer Sauce oder dicken Bohnen konnte der Gast wählen. Bunte Säfte, dreieckige Toastscheiben und Kaffee oder Tee wurden selbstverständlich separat serviert und man konnte diesbezüglich auch mehrmals nachfassen. Jemand wie ich, der täglich zwischen 3000 und 4000 Kalorien verbrannte, jubilierte bei diesen zahlreichen Möglichkeiten, sich den Magen vollzuschlagen. So hatte ich am Vorabend meine Wünsche mit Kreuzchen markiert: Rührei mit Lachs, Porridge und Toastscheiben mit Orangenmarmelade. Für unterwegs steckte ich mir zwei rotbackige Äpfel und vier jener diagonal geschnittenen Toastdreiecke ein. Während sich mein Gaumen mit dem Gegensatz von sehr, sehr süßer Orangenmarmelade und streng gesalzener Butter beschäftigte und Ähnlichkeiten zwischen dem Gegensatz von bitterem Torfrauch und fruchtiger Sherrysüße eines Islay-Whiskys entdeckte, sah ich mir die Exponate auf dem Buffetschrank genauer an.
Aus Kupfer getrieben, standen dicht vor mir zwei befremdende Objekte auf der Anrichte in Augenhöhe. Ihr rötlicher Schimmer ließ sie edel erscheinen, sie schienen gar von innen heraus zu glühen, so blank geputzt standen sie da. Bemerkenswert war ein Gefäß, das einem überdimensionierten Flachmann glich. In der Höhe mochte es 20 Zentimeter messen. Das Ungewöhnliche war aber nicht die
Höhe, sondern die Wölbung in der Breite. Das schlanke Kupfer- gefäß sah aus, als wollte es sich an etwas anschmiegen. Neben ihm stand eine gut 30 Zentimenter hohe, schlanke Kupferröhre, an der eine Messingkette hing und auf deren Spundloch ein abgenutzter Korken steckte. Da ich noch alleine im Frühstücksraum war, fragte ich meine Wirtin nach dem Sinn dieser beiden handlichen Behälter.
„Das sind sogenannte ‚Hunde‘. Vermutlich sagt Ihnen dieser Be- griff nichts“, meinte Mrs. Lorry, die bereits weit fortgeschritten in den Jahren war. „Nicht so wirklich“, antwortete ich. „Sie sehen wie kleine Transportbehälter aus, der breite da könnte ein Flachmann sein, mit dem man eine schöne Portion Whisky für unterwegs mit- nehmen könnte, zum Beispiel auf dem Fahrrad.“
Die gepflegte alte Dame mit der gefönten und schön gerichteten Frisur lächelte und viele Fältchen umspielten ihre Lippen. Zwar schien sie sich über mein Unwissen zu amüsieren, aber das war eher lieb gemeint als überheblich. „Ja, Sie haben nicht ganz unrecht“, meinte sie und hob den Zeigefinger. „Sie müssen wissen, mein verstorbener Mann war der Leiter der Ardbeg Destillerie. In der Zeit seiner Leitungstätigkeit sammelte er als Hobby historische Gegenstände.
Diese beiden Behälter wurden früher von Arbeitern benutzt, um Whisky zu stehlen. Der längliche Behälter hier, der wie eine Röhre ausschaut, wurde unter der Hose am Oberschenkel versteckt und mit der Kette um den Bauch fixiert. Der größere Behälter ist deshalb so gewölbt, weil er sich an den Bauch anschmiegen soll und unauffällig unter die Arbeitsjacke passt. Beide Behälter dienten zum Herausschmuggeln von Whisky aus der Fabrik. Noch vor 30 Jahren wurden alle Arbeiter beim Verlassen der Brennerei kontrolliert, deshalb trugen sie das Diebesgut direkt am Körper unter der Kleidung. Sie dürfen aber nicht meinen, dass diese Arbeiter trinkversessene Diebe waren. Nein, nein, sie stahlen den Whisky aus dem Lagerhaus, um ihn heimlich zu verkaufen und so ihr Einkommen aufzubessern. Damals war der Verdienst viel geringer als heute und viele Familien hatten drei, vier oder mehr Kinder zu ernähren.“
Ich nickte verständnisvoll und zückte auch gleich meine Börse, um die vereinbarten 75 £ für Bed & Breakfast zu begleichen.
Während sie mein Frühstücksservice abräumte, ging ich zurück in mein Winzzimmer zum Zähneputzen und Packen. Guter Dinge verstaute ich die Regenkleidung nach unten, denn die Islay Sonne lachte bereits zum Fenster herein.
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Bevor die anderen Gäste hinter der Rigipswand aus den Betten stiegen, war ich startklar, die Taschen verschlossen, die Wasservorräte aufgefüllt. Den winddichten Anorak und die hautenge Thermohose hatte ich übergezogen, denn vor der Haustür belebte eine steife Atlantikbrise den blanken Himmel, die mich vermutlich den ganzen Tag begleiten würde.
In westlicher Richtung fuhr ich auf der Hauptstraße mit ihren leuchtend weißen Häusern aus Port Ellen hinaus und nahm den qualmenden Schornstein der Diageo-Mälzerei aufs Korn. Bereits nach einem Kilometer stemmte sich die erste Steigung auf der Route nach Bridgend empor. Hier musste ich achtgeben.
Noch am Vorabend hatte mir Kajus empfohlen, bei der ersten Linkskurve von der A 846 auf die subalterne B 8016 abzubiegen, weil auf der nicht soviel Schwerverkehr unterwegs sei. Die Abzweigung auf die verkehrsarme Nebenstrecke fand ich gleich, denn selbst die kleinsten der wenigen Straßen auf Islay sind bestens beschildert.
Hat es sich der Cyclist im Sattel eingerichtet, kann er seine Gedanken schweifen lassen. Prompt begann sich das Kopfkarusell zu drehen und ich erinnerte mich an das Gespräch vom Vorabend. Als ich Kajus nach der besten Inselroute fragte, riet er mir von meinem ursprünglichen Plan ab, via Bowmore die Insel zu queren.
„Der Schwerverkehr nimmt genau diese Strecke auf der A 846, da wirst du zum Gejagten.“
„So viele Laster auf Islay?“ Ungläubig musste ich ihn angesehen haben, denn er antwortete eindringlich: „Wirklich, die drücken aufs Gas. Du musst aufpassen, die hetzen im Akkord über die Insel, um die Mälzabfälle aller Islay Destillerien an die Nordspitze zu bringen, wo sie hinter Port Askaig im Meer verklappt werden.“
Das Wort „verklappt“ hatte mich aufhorchen lassen, deshalb wollte ich von Kajus mehr wissen.
„Das Verklappen“, erzählte er weiter, „ist eigentlich keine Belastung für das Meer, denn es handelt sich bei den ausgelaugten Spelzen um organischen Abfall, der noch viele wertvolle Ballaststoffe enthält. Es ist sogar so, dass die Fische das Extrafutter lieben, genauso wie die Rinder und Schafe. Das Problem ist allerdings, dass nach EU-Verordnung neuerdings die draff-Abfälle aller hiesigen Destillerien an einem einzigen Ort gesammelt und dort kontrolliert und protokolliert ins Meer geleitet werden müssen. Früher entsorgte jede Brennerei für sich die Abfälle an ihrem Standort, so wurden sie punktuell und gut verteilt über die ganze Küste ins Meer gegeben. Jetzt ballt sich alles an einem einzigen Ort an der Nordküste, wodurch dort eine Algenplage zu einem echten Problem geworden ist. Allerdings noch viel schlimmer ist die CO2-Belastung durch die Dieseltrucks zwischen Port Ellen, Bowmore, Port Charlotte und Port Askaig. Diese EU-Vorschrift ist von irgendwelchen Schreibtischtätern ausgeheckt worden und hat zusammen mit anderen stupiden Verordnungen aus Brüssel dazu geführt, dass nicht wenige Islayer für den Brexit stimmten.“
An diese ernüchternden Worte erinnerte ich mich jetzt, als ich ein tausendfach geflicktes Asphaltband unter die Reifen nahm, ein einspuriges Sträßlein, das sie hier upper road nennen. Bereits nach den ersten Kilometern vermisste ich die saftgrünen Weiden voller Mutterschafe und Lämmer. Ringsum war die Landschaft eher tot als lebendig, weites trauriges Heideland, ein trister baumloser Landstrich, auf dessen sumpfigen Torfböden nur moorbraunes Gestrüpp bodennah kroch.
Die ganze Zeit auf dem einspurigen Sträßlein durchs Hochmoor brauchte ich mich vor dem Gegenverkehr nicht in Acht zu nehmen, denn die wenigen Pick-up, die mir entgegenkamen, hielten an den Ausweichbuchten an, sobald sie den Cyclisten aus der Ferne erblickten. Erst nachdem ich die Wagen passiert hatte, startete der Fahrer den abgeschalteten Motor und fuhr, ohne Hupen und aufheulenden Motorenlärm, sachte wieder an. Jedesmal grüssten er und alle Insassen und winkten zu mir herüber, manche reckten sogar den Daumen, als bewunderten sie mich für mein Tun. Anfangs schaute ich erstaunt in die Fahrerkabine und wunderte mich doch sehr: wo steckte der Fahrer? Der Sitz gespenstisch leer!
Erst einen Moment später raffte ich: Klar! Du bist ja im Land des Linksverkehrs und dort, wo bei uns der Fahrer sitzt, braucht hier keiner zu sitzen. Wenn dort mal einer oder eine saß, spielte diese Person meist mit dem Handy.
Nach einer schweißtreibenden Stunde Aufwärtstreten, nur unterbrochen von zwei Trinkpausen, hatte ich schließlich den Rubikon erreicht und wurde von der Natur belohnt – mit einem Weitblick auf den tiefblauen Loch Indaal und das weiße Uferstädtchen Bowmore, hervorgegangen aus der ältesten Islay Brennerei.
Am höchsten Punkt angekommen, verweilte ich nur Minuten, denn nun folgte eine lange, lässige Abfahrt nach Bridgend. Das Dörflein zeigte mir die kalte Schulter, als legte es keinen Wert auf Durchreisende, die weiter wollten.
Vermutlich empfand ich dieses Gefühl, weil hier der Schwerlastverkehr von und nach Port Askaig mit überhöhter Geschwindigkeit an einer schorfigen Häuserzeile entlang donnerte. Trotzig standen die Steinhäuser mit ihren eingerußten Fassaden an der Durchgangsstraße und rächten sich am heftigen Verkehr mit einem Nadelöhr von Passage. In Bridgend genoss nur einer Weite, das war der Dorfplatz mit dem Krämerladen von Spar, wo ich eine Flasche Wasser kaufte. Die Beine vertrat ich mir unter einer knorrigen Eiche, die noch am Überlegen war, ob sie ihre Sommerblätter schon jetzt im Mai oder erst im Juni sprießen lassen sollte. Da ich an diesem Sonnentag noch einiges vorhatte, fuhr ich gleich weiter in Richtung Blackrock, immer am Ufer von Loch Indaal entlang.
Der Loch hat sich so tief ins Herz der Insel vorgewagt, dass es mir zu Beginn der Umfahrung vorkam, als müsste ich auf eine andere Insel hinüber wechseln, so weit entfernt lag das dunstverschleierte westliche Ufer. Selbst der Wind wehte plötzlich aus einer anderen Richtung und schob mich aus der Flanke über den holprigen und mit Querrillen zerfrästen Asphalt. Zu gerne hätte ich meinen Blick über das nahe verschilfte Ufer und die grasgrünen Hügel hinter dem Straßengraben schweifen lassen, doch das wäre äußerst fahrlässig gewesen. Wachsam musste ich mein Augenmerk nach unten, auf den zerfurchten und geflickten Streuselkuchen von Asphalt richten, um nicht in eine Spurrille oder ein Schlagloch zu geraten. Was die Autofahrer in ihren schallisolierten und gefederten Kabinen kaum tangierte, war des Radfahrers Leid: Schlaglöcher im Asphalt und übereinander gekleisterte Teerfladen, deren Ränder zernagt und aus- gefranst die Asphaltpiste in eine Buckelpiste verwandelten. Nicht nur auf Islay, sondern in ganz Schottland waren die Straßen in einem desolaten Zustand und wurden immer nur an den übelsten Stellen auf einigen Hundert Yards geflickt.
Nach zehn Kilometern Holperfahrt auf der flachen Uferstraße tauchte in der Ferne die Silhouette eines Containerschiffs auf, das im Morgendunst zu ankern schien. Beim Näherkommen wurde aus dem Schiff eine weiße Kaserne.
Nein, das war keine Kaserne, das war die Brennerei Bruichladdich, zu der ich wollte. Die weißen funktionalen Gebäude dicht an der Wasserkante waren mein nächstes Ziel.